Nun könnte man vermuten, es müsse doch geometrische Konstellationen von Filamenten geben, die flache Strukturen um Spiralgalaxien begünstigen. Und tatsächlich tauchten kurz nach Kroupas Fund solche abgeplatteten Galaxiengruppen in den Simulationen auf. Nur sind sie trotzdem um einiges größer als das, was wir bei den Zwerggalaxien um die Milchstraße beobachten. Die Satellitenebene ist in Wirklichkeit rund 20 Kiloparsec dick (ein in der Astronomie übliches Längenmaß – ein Parsec entspricht etwa 3,3 Lichtjahren), die Filamentdurchmesser hingegen betragen 200 Kiloparsec und mehr. Das ist, als würden auf einer Autobahn mit zehn Spuren seltsamerweise alle Autos nur auf der mittleren fahren. Um derart gestauchte Strukturen zu erklären, müssten die Zwerge ausschließlich entlang der Hauptadern der Filamente einfallen. Einen erkennbaren physikalischen Grund dafür gibt es nicht.
2013 hat ein Team um Rodrigo Ibata am Observatoire de Strasbourg die Bewegungen der Zwerggalaxien um die Andromedagalaxie bestimmt. Da sich die Objekte so weit weg von uns befinden, lassen sich die Positionsänderungen in Teleskopen zwar nicht räumlich auflösen. Aber die Wellenlängen ihres Lichts verschieben sich bei Bewegungen entlang unserer Sichtlinie messbar. Der Unterschied prägt sich dem Spektrum abhängig von der Geschwindigkeit zu uns hin oder von uns weg – das ist der bekannte Dopplereffekt. Glücklicherweise steht die Ebene der Zwerggalaxien mit der Kante zu uns. Das heißt, falls diese sich innerhalb dieser Ebene um die Andromedagalaxie drehen, müsste die eine Seite in den roten und die andere in den blauen Bereich des Spektrums verschoben sein. Genau das stellte sich bei der Untersuchung heraus! Auch dort laufen also Zwerggalaxien im Gleichsinn innerhalb einer dünnen Ebene herum – wie bei den Begleitern der Milchstraße.
Ein dritter Ausreißer?
Zu jener Zeit begann ich meine Doktorarbeit in Astronomie an der Universität Basel. Meine Betreuer Bruno Binggeli in Basel sowie Helmut Jerjen von der National University of Australia in Canberra und ich stellten uns die Frage, ob unsere so genannte Lokale Gruppe aus Andromedagalaxie und Milchstraße einfach ein Ausreißer im kosmologischen Modell ist oder ob andere Galaxiengruppen ebenfalls solche unerwarteten Eigenschaften besitzen. Darum fahndeten wir an solchen Orten nach Zwerggalaxien. Wir begannen mit der Centaurus-Gruppe am südlichen Firmament und verwendeten die Dark Energy Camera an einem der besten Teleskope der Welt in Chile. Die Centaurus-Gruppe besteht wie unsere Lokale Gruppe aus zwei großen Galaxien: Centaurus A, einer elliptischen Galaxie, und Messier 83, einer Spiralgalaxie ähnlich der Milchstraße. Dazu kommt eine Hand voll Zwerggalaxien. In einer Beobachtungskampagne zwischen 2014 und 2015 durchforsteten wir mehr als 500 Quadratgrad am Sternenhimmel, um die ganze Centaurus-Gruppe zu erfassen. Das entspricht einer Fläche von 2000 Vollmonden. Am Ende hatten wir die Anzahl ihrer bekannten Zwerggalaxien verdoppelt.
Zur gleichen Zeit hat ein Team um Brent Tully vom Institute for Astronomy in Hawaii die um Centaurus A bereits identifizierten Zwerggalaxien untersucht und festgestellt, dass diese dort ebenfalls nicht sphärisch, sondern flach verteilt waren. Das konnten wir an den von uns neu entdeckten Zwerggalaxien gleich überprüfen. Auch mit ihnen sieht das Satellitensystem von Centaurus A relativ flach aus, wenngleich nicht ganz so sehr wie bei der Milchstraße. Das ist aber verständlich, da Centaurus A einiges mehr an Masse aufweist und somit eine insgesamt größere Struktur zu erwarten wäre. Als wir die dreidimensionale Anordnung studierten, fiel uns etwas Grundlegendes auf: Die Ebene der Zwerggalaxien um Centaurus A steht wie bei der Andromedagalaxie mit der Kante auf unserer Sichtlinie. Somit konnten wir auch hier testen, ob die Zwerggalaxien auf der einen Seite rot- und auf der anderen blauverschoben erscheinen, ob also das Satellitensystem von Centaurus A ebenfalls aus einer sich drehenden Ebene besteht. Zu 16 der bekannten Zwerggalaxien um Centaurus A fanden wir in der Fachliteratur bereits Geschwindigkeitsmessungen. Wir trugen die Positionen und Werte auf und waren verblüfft: 14 der 16 Trabanten bewegten sich so, wie es bei einem rotierenden System zu erwarten war. Das war unter den bisher drei untersuchten Fällen der dritte, wo sich die Zwerggalaxien nicht entsprechend der Modelle verhalten.
Mein Kollege Marcel Pawlowski, heute am Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam, verglich die Beobachtungen um Centaurus A mit den derzeit besten kosmologischen Simulationen. Er fand dieselben Wahrscheinlichkeiten wie für die Milchstraße – die Situation kommt in nur etwa einem halben Prozent der berechneten Fälle vor. Eigentlich hätte man über eine Million Galaxiengruppen beobachten müssen, um das Milchstraßen-, das Andromeda- und das Cen-A-System genau nacheinander zu finden. Hatten wir nur extremes Glück, oder steckt mehr dahinter?
Viele Ideen, doch keine heiße Spur
Die Frage, ob solche rotierenden Satellitenstrukturen das kosmologische Modell nun arg in Bedrängnis bringen oder ob wir die Bedeutung der Zwerggalaxien überinterpretieren, wird seither in Fachkreisen heiß diskutiert. Für Noam Libeskind vom Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam handelt es sich beispielsweise um eine Besonderheit unserer galaktischen Umgebung. Die drei Galaxien befinden sich am Rand einer großen Void des kosmischen Netzes und scheinen mehr oder weniger danach ausgerichtet zu sein. Die Ausdehnung der Voids könnte flache Ebenen begünstigen, wie bei einem Ballon, dessen Gummihaut beim Aufblasen immer dünner wird. Neben der Ausdehnung des Hohlraums verstärkt der massereiche Virgo-Galaxienhaufen den Effekt, denn dieser zieht zusätzlich gravitativ an den Ebenen, und zwar genau von deren Kanten her. Wie durch das kosmische Pressen und Zerren aber die Rotation zu Stande kommen könnte, ist noch ein offenes Problem. Für Kroupa hingegen ist die Sache klar: Die Simulationen sagen die Beobachtungen nicht zufrieden stellend voraus, also muss das zu Grunde liegende Modell der Dunklen Materie falsch sein.
Bessere Computerberechnungen lösen das Satellitenebenen-Problem bislang nicht, wie es im Fall der fehlenden Satelliten gelungen ist. Im Gegenteil, die Wahrscheinlichkeiten für solche rotierenden Schichten von Zwerggalaxien wurden sogar kleiner. Andererseits kann das Modell trotzdem sehr viele andere Phänomene sehr genau beschreiben – und wegen einer Unstimmigkeit muss nicht gleich die ganze Kosmologie über den Haufen geworfen werden.
Wie geht es nun weiter? In einer Beobachtungskampagne mit dem größten optischen Teleskop der Südhemisphäre, dem Very Large Telescope, beobachten wir gemeinsam mit Marina Rejkuba, Michael Hilker und Katja Fahrion an der Europäischen Südsternwarte weitere Zwerggalaxien um Centaurus A. Wir wollen überprüfen, ob die von uns neu gefundenen Exemplare in gleicher Weise rotieren. Auch andere Fachleute suchen nach Zwerggalaxien um weiter entfernte Galaxien und haben sogar Hinweise auf Anordnungen in Ebenen gefunden. Genauere dreidimensionale Positionsmessungen werden dabei helfen, die rotierenden Systeme zu verstehen. Zudem versuchen wir zu überprüfen, ob sie doch mit dem Standardmodell der Kosmologie vereinbar sind. Eine unserer Ideen: Gigantische Galaxienkollisionen könnten das Phänomen hervorbringen. Zumindest Centaurus A hat gerade eine solche hinter sich. Darüber hinaus suchen wir nach Ansätzen, die entweder die Eigenschaften der Dunklen Materie im Standardmodell verändern – oder sogar die Gravitationstheorie selbst. Die modifizierten Gravitationstheorien befinden sich jedoch noch in den Kinderschuhen und können sich noch nicht mit den vielen übrigen Erfolgen des Standardmodells messen.
Eines jedenfalls wurde in den letzten Jahrzehnten klar: Wollen wir das Rätsel der Dunklen Materie lüften, dann müssen wir die seltsamen Phänomene rund um die Zwerggalaxien verstehen. Denn wir haben im Universum gerade erst damit begonnen, Licht ins Dunkle seiner kleinsten Strukturen zu bringen.
August 22, 2020 at 05:08PM
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